Die Ausstellung Staub & Seide. Steppen- und Seidenstraßen lädt zu einer vielschichtigen Spurensuche durch Geschichte und Gegenwart ein und fragt nach den Verbindungen der historischen Routen mit der „Neuen Seidenstraße“.
Stoffe und Ikat-Webereien aus Seide, Tee und „Wilde Äpfel“ gelangten einst auf den mythenumwobenen historischen Handelsrouten, die schon Marco Polo bereiste, nach Europa. Doch eine Seidenstraße hat es nie gegeben. Weder damals noch heute handelt es sich um eine einzelne Straße oder nur um Seide als einziges Transportgut. Vielmehr war und ist es ein loses, sich veränderndes Geflecht aus Land- und Seerouten, das China mit Europa und anderen Weltgegenden verbindet.
Der Begriff „Seidenstraßen“ wurde 1877 erstmals vom deutschen Geografen Ferdinand von Richthofen verwendet. Auf den Wegen durch die Steppen und Wüsten zwischen Asien und Europa
bewegten sich neben Seide Güter wie Tee, Gold, Jade, Porzellan und Pferde. Aber auch Waffen, Musikinstrumente, Goldene Pfirsiche, Wildäpfel und Gewürze sowie Ideen, Religionen, Kunst, Träume, Wissen, Krankheiten, Konflikte und Staub.
Auch heute geht es um Kontakte, Bewegung und Transport, wenn auch mit anderer Geschwindigkeit und neuen Waren. Großangelegte Infrastrukturprojekte prägen die Regionen der Steppen- und Seidenstraßen und fördern nicht nur Staub, sondern auch Rohstoffe an die Oberfläche. In Europa wird vielfach die Bezeichnung „Neue Seidenstraße“ für das von China geplante weltumspannende Infrastrukturnetz der „Belt & Road Initiative“ verwendet.
In der Ausstellung werden diese Bewegungen und die Beziehungen zwischen Asien und Europa nachvollzogen und neue Verbindungen zwischen Themen und Orten hergestellt. Die Exponate spiegeln dabei auch die Interessen der Reisenden, die sie nach Europa gebracht haben.
Zu sehen sind über 200 historische Objekte, Kunstwerke und Fotografien, die in Gegenüberstellung mit aktuellen künstlerischen Perspektiven und rezenten Forschungsdokumentationen betrachtet werden. Zu den Exponaten zählen herausragende Sammlungsstücke des Weltmuseums Wien sowie zahlreiche Leihgaben aus nationalen und internationalen Museen und Sammlungen und Werke zeitgenössischer Künstler*innen.
Die Ausstellung entstand in Kooperation des Weltmuseums Wien mit dem Museum am Rothenbaum (MARKK) in Hamburg, wo die Schau von 12. Dezember 2020 bis 7. November 2021 zu sehen war, sowie dem Forschungsprojekt „Dispersed & Connected“ (Projektdirektorin und Kuratorin Maria-Katharina Lang/ÖAW), gefördert durch den Fond zur Förderung wissenschaftlicher Forschung im Programm zur Entwicklung und Erschließung der Künste (FWF/PEEK-AR 394-G24).
Wege durch die Ausstellung
Ausgangspunkt für die Ausstellung ist die Steppe: Die Steppenlandschaften zwischen dem Kaukasus und China sind ein Zwischenraum, der Ost und West verbindet. In ihr bewegen sich Reisende, Transportwege durchqueren sie. Hier entstanden frühe zentralasiatische Reiche mit großer Wirkung auf sesshafte Bewohner in China und Europa.
Die Schau lenkt den Blick auf wenig beachtete Zwischenräume und kaum gehörte Stimmen. Die Besucher*innen können diesen Geschichten auf verschiedenen Weglinien durch die Ausstellung folgen:
Bei den „Objekten der Begegnungen“ trifft man etwa auf eine Goldkasel aus Regensburg, gefertigt aus kostbarem mongolischem „Tartarenstoff“, auf chinesisches Porzellan oder auf wilde Äpfel, die ihren Ursprung im Zentrum Asiens, im Tian Shan Gebirge haben.
Die „Orte der Sehnsucht“ führen zu legendären Handelsstädten wie Tiflis oder Samarkand, auf den Basar von Buchara oder an den chinesischen Kaiserhof.
Bei den „Objekten der Begierde“ treffen Besucher*innen unter anderem auf kostbare Ikat-Weberein, die von Indien und Südchina bis Zentralasien Verbreitung fanden, auf die legendären „Himmlischen Pferde“ aus dem Fergana-Tal und natürlich auf Gold, Tee und chinesische Seide.
Diese Wege sind auch mit Reisenden, Sammler*innen sowie zeitgenössischen Kunstwerken verbunden.
Europäische Expeditionen: Reisen, Sammeln & Austausch
Die Reise des Händlers Marco Polo (1254–1324) nach China und die auf Grundlage seiner Erzählungen verfassten Berichte inspirierten noch Jahrhunderte später Reisende, seinen Spuren entlang der Seidenstraßen zu folgen. Viele der Dinge, die sie unterwegs als Fragmente dieser imaginierten Seidenstraße(n) erwarben, gelangten in die Sammlungen europäischer Museen und Bibliotheken, so auch ins Weltmuseum Wien.
Franz Heger, der Leiter der Anthropologisch-Ethnographischen Abteilung des Naturhistorischen Museums Wien (Vorgänger des Weltmuseums Wien), reiste nach Zentralasien, dokumentierte Baudenkmäler und sammelte „ethnographische“ Objekte, die sein Interesse weckten. Georg von Almásy brach im Jahr 1900 als einer der ersten Europäer seit Jahrhunderten auf, um die Gipfel und Gletscher des Himmelsgebirges (Tian Shan) zwischen Kasachstan, Kirgisistan, Usbekistan und China zu erforschen und zu fotografieren.
Auch Frauen waren im frühen 20. Jahrhundert als Reisende und Sammlerinnen unterwegs. Der Anteil der sammelnden Frauen in Bezug auf die ausgewählten Objektbestände des MARKK ist dabei außerordentlich bemerkenswert, ebenso deren Lebensgeschichten. Der Malerin und Grafikerin Lene Schneider-Kainer (1885 Wien–1971 Cochabamba, Bolivien) und ihrer Reise über Konstantinopel, Tiflis und Baku in den Iran und weiter durch Südasien bis China wird in der Ausstellung ein besonderes Augenmerk gewidmet.
Natürlich dienten viele dieser Reisen nicht nur der Wissenschaft, sondern versorgten auch die expandierenden europäischen Reiche mit Informationen, die deren politische und wirtschaftliche Ambitionen unterstützten. Die Gegenstände, mit denen die Reisenden zurückkehrten, sind eine Mischung aus Sensationellem und Alltäglichem: Brillen zum Schutz vor Staub und Sand der Steppe, Panoramafotos von gewaltigen Berggipfeln und Tälern, Gegenstände aus dem Inneren einer Jurte, Astragale und Seiden-Ikat.
Zeitgenössische Kunst
Einen besonderen Stellenwert in der Ausstellung nehmen die Werke zeitgenössischer Künstler*innen ein. Diese wurden im Rahmen des der Ausstellung zugrunde liegenden Forschungsprojekts eingeladen, Werke zu schaffen, die sich mit Themen wie Infrastrukturen, Geschwindigkeit, Distanz und Verbundenheit, Globalisierung, Kolonialismus, Nomadismus und Ressourcenabbau auseinandersetzen. In der Verbindung aktueller Perspektiven mit historischen Kunstwerken und Kulturgütern werden überraschende und kaum beachtete Geschichten erzählt. Die zeitgenössischen Stimmen beschreiten ihre eigenen Wege und präsentieren dabei durchaus auch kritische Visionen.
Paul Kollings Break of Gauge entfaltet sich filmisch in einem einzigen durchgehenden Bild der Zugverbindung zwischen China und Deutschland und zeichnet eine Frachtlieferung im Juni 2019 in Zeit und Raum nach. Dilyara Kaipovas textile Kunstwerke berühren die koloniale Vergangenheit Usbekistans und die Globalisierung. Das Werk The Scream thematisiert die Übernahme globalisierter Bilder in usbekische Kulturformen und verdeutlicht den Preis, der für die Anpassung an die Anforderungen der Globalisierung verlangt wird. In dem Gemälde Time Link zeigt die Künstlerin Nomin Bold, deren Werke auch auf der Dokumenta 14 ausgestellt waren, die Verbindungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart im Stil moderner mongolischer Malerei.
Zwei beeindruckende Kurzfilme von Jack Wolf entstanden in der Auseinandersetzung mit und nach einer Forschungsreise 2019 nach Xinjiang und Kazachstan.
Besonders wirkungsvoll sind die beiden Gemälde von Khosbayar Narankhuu, die sich auf den ersten Blick stark an der Bildsprache des tibetischen und mongolischen Buddhismus orientieren. Bei näherer Betrachtung offenbaren sie aber auch Details und Erzählungen, die die zeitgenössische Kultur und Politik scharf kritisieren. Das Weltmuseum Wien konnte die beiden Gemälde dank der großzügigen Unterstützung der Freunde des Weltmuseums Wien und John D. Marshalls für seine ständige Sammlung erwerben.
Das Forschungsprojekt „Dispersed & Connected“
Die Ausstellung ist das Ergebnis des künstlerisch-wissenschaftlichen Forschungsprojekts Dispersed & Connected. Künstlerische Fragmente entlang der Steppen- und Seidenstraßen (FWF/PEEK-AR 394-G24), geleitet von Maria-Katharina Lang vom Institut für Sozialanthropologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Mitglieder des transdisziplinären Projektteams, bestehend aus Wissenschafter*innen und Künstler*innen, sind Tsetsentsolmon Baatarnaran, Georg Czernin, Johannes Heuer, Erdenebold Lhagvasuren, Tatia Skhirtladze und Christian Sturminger. Feldforschungen, Forschung in Museen und die Zusammenarbeit mit Künstler*innen in Asien und Europa sind Grundlagen dieses Projekts.
https://dispersedandconnected.net
Maria-Katharina Lang ist Kuratorin der Ausstellung und hat gemeinsam mit Christian Sturminger, der Videoarbeiten von ihren Forschungsreisen in das Projekt einbrachte und die Ausstellung
szenografisch gestaltete, eine Präsentation geschaffen, die Fragmente der vielen imaginierten Seidenstraßen miteinander in Verbindung setzt, mit der Steppe im Mittelpunkt. Sie bringt das lange Leben der Dinge und Bilder, die langsamen Erzählungen von Zeit und Raum, mit neuen künstlerischen, wissenschaftlichen und lokalen Perspektiven zusammen. Johannes Heuer hat die imaginäre begehbare Karte und den Ausstellungskatalog künstlerisch gestaltet; von ihm stammt außerdem eine Videomontage am Ende der Ausstellung.
Kostbare Leihgaben und einzigartige Sammlungsobjekte
Neben zahlreichen Objekten aus den Sammlungen des Weltmuseums Wien, von denen einige erstmals gezeigt werden, sind in der Ausstellung kostbare Leihgaben aus österreichischen und internationalen Museen und Sammlungen zu sehen. Leihgeber sind u.a. das Museum am Rothenbaum – Kulturen und Künste der Welt in Hamburg (MARKK), das Benediktinerstift Admont, die Österreichische Nationalbibliothek, das Centrum für Naturkunde Universität Hamburg, die Kunstkammer des Kunsthistorischen Museums Wien, die Kunstsammlung des Bistums Regensburg, das Naturhistorische Museum Wien, das Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, das Österreichisches Museum für angewandte Kunst (MAK) sowie private Leihgeber*innen.
Zitat Jonathan Fine, Direktor Weltmuseum Wien:
„Die Steppen, durch die die Seidenstraßen verliefen, waren in der Vergangenheit das Zentrum der Welt. Sie sind für ihren Reichtum so berühmt gewesen, dass sie uns noch heute in ihren Bann ziehen. Wenn wir uns die Geschichte der Seidenstraßen genauer ansehen, so verstehen wir sie nicht nur als Route(n) für den Austausch von Waren, sondern auch von Macht, Wissen, Religionen, Krankheiten, und Kunst. Und dann ist auch der Blick auf die ‚Neue Seidenstraße‘ umso interessanter: Was wird sie uns außer einem verstärkten Handel noch bringen? Wie wird sie die Welt verändern?“
Zitat Maria-Katharina Lang, Kuratorin der Ausstellung:
„Der Blick ist in dieser Ausstellung auf die Zwischenräume und Vielstimmigkeit gerichtet, die im öffentlichen Diskurs wenig gehört und berücksichtigt werden. Diese Zwischenräume sind von einem sich verändernden Geflecht von Wegen und Geschichten gezeichnet. Die Ausstellung ist eine Montage von Objekten und Erzählungen von Menschen, die uns während der Recherchen in den Museumsdepots, Archiven und Feldforschungen – manchmal zufällig – begegneten; ein fragmentarischer Reisebericht entlang der Steppen- und Seidenstraßen zwischen Peking und Hamburg bzw. Wien und auf deren Seitenwegen.“
Kontakt
Nina Auinger-Sutterlüty, MAS
Mag. Sarah Aistleitner
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